Antisemitologie
von Prof. Dr. Rolf Verleger*
Das Antisemitismus-Gerede überhöht Judenhass zum mystischen Ewigkeitsphänomen. Es dient vor allem dazu, Kritik an Israel zu denunzieren. Eine Antwort auf Micha Brumlik
Gibt es Antisemitismus auch unter Juden? Diese Frage bescherte Micha Brumlik den taz-Lesern zum jüdischen Pessachfest (taz vom 3. 4.2007). Prinzipiell sei dies denkbar, führte Brumlik aus, schließlich gebe es auch frauenfeindliche Frauen und schwulenfeindliche Homosexuelle. Daher könnten auch Juden, die Israels Politik kritisieren, „Antisemiten“ sein. Die Initiative „schalom 5767“ jedenfalls, in der rund 70 jüdische Unterzeichner gefordert haben, sogar mit der Hamas zu reden, nehme den Antisemitismus der Hamas „zumindest billigend in Kauf“.
Zunächst einmal fällt der denunziatorische Charakter des Arguments auf. Denn wenn Juden „antisemitisch“ sind, dann sind sie offensichtlich Verräter an ihrer jüdischen Gemeinschaft. Sie sollten daher, wenn sie nicht Reue und Selbstkritik üben, aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden und sie sollten auch von Menschen, die nicht jüdisch sind, verachtet werden.
Nun ist es schon ein Kunststück, die Unterstützer von schalom 5767 in die Nähe des „Antisemitismus“ zu rücken: Mit unserer „Berliner Erklärung“ für ein lebensfähiges Palästina an der Seite Israels betonen wir die ethische Tradition des Judentums und setzen uns für eine friedliche Zukunft beider Völker ein. Doch Micha Brumlik meint, als Großinquisitor die Wölfe im Schafspelz entlarven zu können. Dabei ist ihm sogar schmerzhaft bewusst, dass die „Abweichler“ in wesentlichen Punkten Recht haben könnten – schließlich bescheinigt er selbst der israelischen Regierung, ihr Verhalten gegen die Palästinenser sei „völkerrechts- und menschenrechtswidrig“. Trotzdem scheint er zu der Überzeugung gelangt zu sein: Augen zu und durch!
Mit rationalen Gründen allein ist das nicht erklärbar. Doch reden wir lieber über den Begriff „Antisemitismus“. Das Wort wurde im 19. Jahrhundert geprägt, um dem ordinären Hass gegen Juden einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben; auch sollte es die Notwendigkeit des Kampfes zwischen der edlen „germanischen“ und der niederen „semitischen“ Rasse betonen. (Abraham, der Stammvater von Arabern und Juden, war ein Urururururururenkel von Noahs Sohn Sem und gehörte damit gemäß der pseudowissenschaftlichen Rassentheorie zur „semitischen Rasse“.) Die Nationalsozialisten nahmen das gerne auf. Aber sollen wir dieses Wort einfach weiterbenutzen – erfunden von Leuten, die nur ihre eigenen Vorurteile im Kopf hatten?
Der Fehler dieses Wortes für den heutigen Gebrauch ist der „-ismus“: Damit wird jede Hass-Tat, jede Hass-Aussage nicht als das genommen, was sie ist, sondern als Teil eines „antisemitischen Systems“ oder eines „antisemitischen Charakters“ eingeordnet, anstatt die Hintergründe für diesen Hass genauer zu analysieren.
Abneigung gegen Juden kann sich aus vielen Quellen speisen. Am wichtigsten ist der Hass gegen alles Fremde: Stets sehen die „anderen“ merkwürdig aus, kleiden sich falsch, benehmen sich falsch, hören die falsche Musik (mein Nachbar immer NDR1, es ist furchtbar!), glauben an die falschen Ideale. „Was wollen diese Leute überhaupt hier? Können die nicht woanders hingehen?“
Dieses unschöne, aber sehr menschliche Verhalten hat mit Juden an sich wenig zu tun. Jedoch bildeten Juden jahrhundertelang die einzige relevante Minderheit in deutschen Landen. Zum Beispiel als unsere Lübecker Synagoge 1880 eingeweiht wurde, waren die ca. 300 Juden die größte Minderheit in der Stadt, noch vor den Katholiken! Die deutsche Gesellschaft war lange Zeit in einer Weise homogen, wie wir es uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Der allgemeine Hass auf Fremde konnte gar kein anderes Objekt als die Juden finden.
Speziellere historische Ursachen für Judenhass in Deutschland sind der christlich begründete Groll gegen die Juden – als dem Volk, das sich nicht von Jesus überzeugen ließ – später, drittens, die Nazi-Ideologie von der Ungleichwertigkeit der „Rassen“. In neuerer Zeit bestehen als Nachwirkung der Nazi-Verbrechen Probleme für den Umgang mit Juden. Denn selbstverständlich ist man befangen, wenn die eigenen Angehörigen jemandem etwas angetan haben und man dann dessen Angehörigen begegnet. Das kann sich in Überreaktionen äußern: Man ist verdruckst oder platzt zur Unzeit mit unpassenden Bemerkungen heraus. Letztlich nimmt man es dem Gegenüber übel, dass er einen an die Verbrechen der Vergangenheit erinnert.
Eine neuere Ursache ist die Empörung über die Art und Weise, wie der jüdische Staat Israel die Palästinenser behandelt.
Diese verschiedenen Quellen für Abneigung gegen Juden muss man unterscheiden. Die allgemeine Fremdenfeindlichkeit hat nicht abgenommen, aber sie richtet sich nicht mehr allein gegen Juden. Es lebt sich in Deutschland weit gefährlicher, wenn man dunkle Hautfarbe hat, als wenn man Jude ist. Und als Muslim bekommt man heute ziemlich genau die Vorhaltungen gemacht, die früher Juden zu hören bekamen.
Der christliche begründete Judenhass bot über tausend Jahre lang die wichtigste ideologische Rechtfertigung für Diskriminierung und Gewalt, dürfte aber heute – zumindest in Deutschland – an Wichtigkeit verloren haben. Auch der „Antisemitismus“ der Nazis spielt heute keine öffentlich wahrnehmbare Rolle mehr.
Die Unsicherheit gegenüber Juden vor dem Hintergrund der Verbrechen der Nazizeit zeugt nur von der Schwierigkeit, den richtigen Umgang zu finden. Dagegen hilft vielleicht die offene Aussprache – die allerdings durch den letzten Punkt sehr erschwert wird.
Dieser Punkt ist die Empörung über die israelische Politik gegenüber den Palästinensern. Diese ist, wie auch Brumlik einräumt, zunächst einmal berechtigt. Sie wäre auch keine Quelle von Judenfeindschaft in Deutschland, wenn sich die Vertretungsorgane der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nicht so stark mit der unhaltbaren israelischen Besatzungspolitik identifizieren und jede Kritik daran als Ausdruck von „Antisemitismus“ abtun würden.
Brumliks Artikel erschien zu Pessach, dem wichtigsten Fest für die jüdische Familie. Am Ende des „Sseder“, der Feier des ersten Pessach-Abends, singt man – meist schon etwas beschwipst – traditionell das Lied von „Chad Gadja“, dem „einen Zicklein“: Das Zicklein wird von der Katze gefressen, diese vom Hund zerbissen, dieser vom Stock erschlagen. So geht das noch viele Etappen weiter, bis am Ende Gott dem verrückten Treiben ein Ende macht. Die israelische Sängerin Chava Alberstein hat dieses Lied vor 20 Jahren neu vertont und gefragt: Wie lange soll dieses „Chad Gadja“ zwischen Israel und Palästinensern noch weitergehen? Können wir es uns noch leisten, zu warten, bis sich Gott meldet? Müssen wir diese Spirale der Gewalt nicht endlich selbst stoppen?
Die Universität Tel Aviv verlieh Chava Alberstein 2005 die Ehrendoktorwürde. Ginge es nach Brumlik, so müsste man wohl überlegen, ob sie nicht auch eine „jüdische Antisemitin“ sei.
*mit Genehmigung des Autors – Original hier: http://www.taz.de/!294587/
Rolf Verleger ist Psychologe und lebt in Lübeck. Mit 70 anderen jüdischen Unterzeichnern verfasste er 2007, nach dem Wahlsieg der Hamas im Gazastreifen, einen Aufruf an die deutsche Regierung, sich aktiv für einen lebensfähigen palästinensischen Staat einzusetzen: www.schalom5767.de