Donbass – eine Reise in den Krieg: Frieden und Freundschaft stehen obenan! (2)

Donezk
Schließlich hieß es „Achtung Flughafen – hier ist es auch sehr gefährlich“. Wer weiß das nicht: ab 1931 erbaut und erst 2011 kräftig ausgebaut, war der Flughafen eine Perle in Mittelosteuropa. Jetzt wird dort ständig gekämpft, alles ist zerstört. Schließlich rollten wir in die Stadt ein, die vor dem Krieg 1,1 Millionen Einwohner zählte. 1,8 Millionen soll die Zahl der Bewohner in der Volksrepublik Donezk noch im Sommer des vergangenen Jahres gewesen sein, verlässliche aktuelle Zahlen gibt es nicht. Eines jedoch lässt sich sagen: Donezk wirkte ungleich belebter als Lugansk, stellenweise regelrecht schick.
Und noch immer hatten wir keinen einzigen scharfen Schuss gehört. Auf der ganzen Reise nicht – bisher.
Im Regierungspalast hieß es schlicht: Mittagspause. Und Regierungschef Sachartschenko empfange in dieser Woche nicht. Sein Büro sei jedoch über den Seiteneingang erreichbar. Wir nutzten die Mittagspause für ein kräftiges Essen in der nahen Prachtstraße, die auf der breiten und üppig begrünten Mittelinsel Restaurants und Geschäften Platz bot. Im Büro wurde schon nach meinen ersten einleitenden Worten entschieden, dass wir zu Sachartschenkos Spitzenberater mussten. Bis es losging nahm ich so viele Daten auf wie möglich: Namen und Erreichbarkeiten von Verantwortlichen und Zuständigen, Vorgehensweisen. Interessant: Donezk sucht Hersteller für preiswerte kleine Fertighäuser als Behelfsunterkünfte. Dann kam der Anruf aus Sachartschenkos Büro: Also legten wir zu Fuß und mit Sack und Pack einen knappen Kilometer zurück, bis wir zu einem großen Gebäude aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gelangten, das offenbar die Stabsbüros beherbergte. Oben gab es erst ein wenig Geplänkel mit Mitarbeitern, plötzlich ging die Tür auf. Ein kleiner, zierlicher Fünfziger erschien und erklärte – auf Deutsch: „Ich heiße Paul.“ Ich musste dann eine ziemliche Anzahl Prüffragen über mich ergehen lassen, was meine Klage über die Schwierigkeiten bei der Reisevorbereitung anbetraf. Es hieß dann, eventuell sei der Chef auch schon wieder in zwei, drei Tagen empfangsbereit. Eine Begründung könne nicht gegeben werden, die sei vertraulich, sagte Pavel: „Das ist Krieg“. Im aufgeräumten Ton unserer Besprechung klangen diese ernsten Worte wie ein Kanonenschuss.
Wir haben dann noch über EU- und Nato-Politik, künftige Projekte wie eine Konferenz noch in diesem Sommer gesprochen. Pavel besorgte mir noch einen ebenso netten wie fitten Taxifahrer – und einen weiteren, der meine Dolmetscherin unverzüglich nach Lugansk zurückbrachte.
Hoch zufrieden verabschiedeten wir uns draußen auf der Straße, rauchten noch ein Zigarettchen zusammen; Pavel ächzte ein bisschen, vielleicht habe ich beim Abschied zu stark zugedrückt…
1,8 Millionen Einwohner zählte das Gebiet der selbsternannten Volksrepublik Donezk im vergangenen Sommer. Keiner weiß genau, wie viele es heute sind, sicherlich weit über eine Million. Donezk ist Frontstadt geworden, jederzeit können Granaten und Bomben einschlagen. Ich verließ gegen 16 Uhr Ortszeit die Stadt, kurz nach 20 Uhr wurde der Bahnhof so bombardiert, dass die Überwachungskameras nur gelbes Flutlicht aufzeichnen konnten. Schrecklich, diese Einschläge und hinterher der sekundenlange Splitterregen. Und warum? Keinen Millimeter Boden gewinnen Kiews Truppen durch solche Beschießungen, die OSZE registriert alles, die Politik wird ’rauf und ’runter informiert, kann alles schön aufbereitet nachlesen. Und GAR NICHTS passiert. Der Donbass wurde vom christlichen Abendland zum Abschuss freigegeben. Und: Den Terrorkrieg führt Kiew – nicht der Donbass. Die westliche Wertegemeinschaft beweist erneut die Skrupellosigkeit ihrer multikriminellen Eliten. Sie rauben ihre eigenen Völker durch die Mafiosi aus und bomben andere ins Chaos – das sind nur zwei Seiten der gleichen Medaille.
Donezk ist betriebsam, auch auf dem Weg zur russischen Grenze bekam ich keinen einzigen Schuss mit, sah nur wenige und zumeist geringe Schäden. Inzwischen schlugen die Granaten in der nahen Ortschaft Gorlowka ein, töteten Kinder und Frauen. Und überall wohnt das Grauen, kämpfen Regierung und Krankenhäuser gegen chronischen Medikamente-Mangel, hungern Menschen, sehen bang den nächsten Winter kommen.
Ukrainer sehen sich als Opfer größerer politischer Machenschaften, die ihr Volk zerreißen – und ich muss keine Straßeninterviews starten um zu wissen, es gibt nur eine echte Frage: WANN ENDLICH HÖRT DIESER WAHNSINN AUF? Und die traurige Antwort, die man niemandem ins Gesicht sagen möchte, der jetzt schon leidet: wahrscheinlich erst nach der nächsten großen Katastrophe.

Moskau
An der Grenze lief alles glatt, die Nacht war kurz, schon am frühen Morgen brachte mich Aeroflots lokale Partnerin „Donavia“ wieder nach Moskau. Über der Stadt sah ich wieder diese Sprühspuren, über einer Wolkendecke, weit weniger als über Berlin, nur drei vier parallele Spuren, die sich auch nicht so stark ausbreiteten. Aber dennoch…
Müde schleppte ich mein Gepäck und mich selbst in ein Taxi, stand 40 Minuten in Moskaus Morgenstau – und freute mich darauf, am Nachmittag nach sechs Jahren Pause zum ersten Mal wieder Professor Daschitschew zu treffen, der im Februar 90 geworden war.
Zuvor jedoch gab es diese Gesprächsergebnisse: „Glauben Sie ja nicht, die russische Regierung regiere nicht auch gegen ihr Volk. Die haben auch ihre „Kanzlerakte“ unterschrieben.“ In der Frage nach dem Einfluss der Rothschild-Gruppe auf die russische Zentralbank bin ich noch nicht weit genug gekommen, auch nicht in der Frage möglicher Gebietsrückgaben an Deutschland. Ich bin als Gegner jeglicher Revision der jetzigen Grenzziehungen in Europa bekannt. Es ging hier lediglich darum, die russischen Befindlichkeiten abzuklären. Diese Klärung ist angestoßen – aber nicht zuende.
Was mich jedoch vor allem beindruckte, war die Schilderung einer russlandweiten Großkundgebung von 15 Millionen Russen am 9. Mai. Äußerer Anlass war natürlich das Ende des II. Weltkriegs. Aber Inhalt war die Sorge um den Erhalt des Friedens und die für viele Russen nicht immer nachvollziehbare Regierungstätigkeit. Vor sechs Jahren haben diese Kundgebungen zum 9. Mai in Sibirien begonnen. „Kaum jemand hat sich um diese Leute gekümmert“, erzählte mein Gesprächspartner. „Jahrelang dümpelten die Veranstaltungen mit kleinen Zahlen vor sich hin. Und in diesem Jahr gab es plötzlich eine Teilnehmer-Explosion. Der Staat, die Obrigkeit, wussten nicht, was sie tun sollten, es gab keine Erfahrungen damit. Dann haben sie beschlossen, gar nichts zu machen. Der Staat hat sich praktisch zurückgezogen.“ Putin war schlau, der hat sich in Moskau einfach vorne eingereiht. Die Geschichte seiner Eltern ist wirklich sehr berührend. Er hielt eine typische Schwarz-Weiß-Tafel in der Hand, mit dem Foto seines Vaters. „Die Teilnehmer nennen sich ‚Regiment der Unsterblichen’“, fügte mein Freund hinzu, „ihr Slogan war: ‚Wir leben heute hier’.“ Ich ließ mir das sofort im Internet zeigen, bekam bei den Fotos eine Gänsehaut. Was für eine Kraft steckt in dieser Zurückhaltung. Alle Regierungen, deren Bevölkerung in Millionenzahlen aufsteht und sagt: „Da sind wir!“ kommt zwangsläufig ins Grübeln. Ich wusste nur eines in diesem Moment: Diese Geschichte musste ich in Deutschland erzählen. Diese 15 Millionen, die hatten in mir einen Nerv getroffen: Diese 15 Millionen waren die lebendige Garantie, dass Russland uns niemals angreifen würde. Und mein Traum war sofort: Dass wir das hier in Deutschland aufgreifen – und geben unseren russischen Freunden ein ähnlich starkes Signal zurück, dass unsere Regierung uns am Hals hat, wenn sie weiter gegen Russland intrigiert, hetzt und rüstet.
Und mein Facebook-Post dazu hat jetzt gerade die 600.000 „Leserkontakte“ erreicht. Es war wie ein Symbol für den Erfolg, das die „Like“-Zahl der Seite in der Nacht zuvor die 50.000er-Grenze überschritten hatte.
Wie auch immer, jedenfalls wurde in Moskau engere Zusammenarbeit beschlossen, das werden wir jetzt tun. Es ist eine Freude. Es ist einfach unglaublich gut, in dieser Zeit mit guten, kultivierten, netten Russen etwas für den Frieden tun zu können und immer zu wissen: Die denken wie ich, wie meine Freunde, die wollen gegen den Wahnsinn ankämpfen, der um sich greift und einen unerträglichen Leichengeruch ausstrahlt.
Ich fuhr ins Hotel zurück, aß und fiel müde aufs Bett. Professor Daschitschew hatte am Morgen an der Uni eine kleine Ansprache gehalten, war wohl auch müde. Wir trafen uns am Nachmitttag in einem kleinen Moskauer Café.
Er ging gebückter, war noch zarter geworden. Aber seine Augen waren klar und ruhig hinter seinen altmodisch großen Brillengläsern.
„Ach“, sagte er, „Sie kommen jetzt von Rostow? Da war ich im Krieg! Sie wissen ja, ich habe gekämpft, wir sind bis Kiew gekommen!“ – dabei sah er mich genau und prüfend an, als ob ich ihm das jetzt übelnehmen könnte? – „und ich habe die ganze Zeit gedacht: ‚Was für einen Blödsinn mache ich da!’“ Da war es wieder, dieses Gefühl der Verwandtschaft zwischen uns, das besteht, seit ich ihm 2009 beim ersten Treffen, damals in seiner niedlichen Datscha, von meiner Gegnerschaft gegen den Nato-Einsatz in Afghanistan berichtete – und er mir die Hand aufs Knie legte, strahlte und sagte mit seinem russischen Akzent, der aus der deutschen Sprache eine sanfte Melodie macht: „Ich glaube wierr sind Verrwandte.“ Und er erzählte die Geschichte seines Briefes an die damalige Sowjetführung, in dem er dringend abriet, die Rote Armee am Hindukusch einzusetzen, „hauptsächlich aus kulturellen Gründen“.
Diesmal sprach ich über den Großonkel meiner Frau, den Bruder des 1944 von Hitlers Schergen bei laufender Kamera im Bendlerblock aufgehängten Adam von Trott zu Solz: Heinrich. Knapp zwei Meter groß hatte er den Krieg gegen die Russen so dermaßen satt, wollte keinen von ihnen mehr töten, dass er in voller Länge auf der Kante seines Schützengrabens spazieren ging, in der wilden Hoffnung, er möge abgeschossen werden. Nicht nur einmal. Und dann geriet er irgendwo ins Niemandsland – und eine russische Mutter, die ihren eigenen Sohn schon durch die Deutschen verloren hatte, nahm ihn in ihr Häuschen auf, machte dem hungernden und erfrierenden 20-jährigen ein heißes Bad, gab ihm zu essen und legte ihn schlafen.
Wir gingen die ganze neueste politische Entwicklung durch, und er machte mir ein großes Kompliment zu meiner Arbeit, die er als Mitglied in meinem russischen Mail-Verteiler genau kennt: „Ich kann alles was Sie sagen voll unterschreiben.“ Aber Daschitschew ist auch genau, er hat mich zu diesem und jenem Detail noch einmal befragt. Friedmans Chicagoer Rede vom Frühjahr mit dem Eingeständnis des unbedingten Washingtoner Willens, Deutsche und Russen auseinander und gegeneinander zu halten. Die westlichen Raubzüge gegen das ukrainische Volk, durch US-Firmen und EU-Regeln, in Zusammenarbeit mit der korruptesten denkbaren Oligarchenclique in Kiew, die sich mit US-Oligarchen verheerend gut versteht… Am Ende sah er mich fast ungläubig an, weil zwischen unsere Ansichten sozusagen „gar kein Blatt Papier passt“. Ich denke: Wer gutwillig und im Sinne der Menschen an Politik herangeht, kommt zu unseren Ergebnissen, nach dem Motto: Kläre Deine politische Motivation – und wenn da Übereinstimmung besteht, werden zumeist auch sehr ähnliche Analysen und Handlungsvorschläge kommen.
Egal was andere sagen mögen, für mich ist Daschitschew eine Größe. Ganz wunderbar war, als er zum Schluss temperamentvoll ausrief: „Wenn nur das Verständnis zwischen Russland und Deutschland so gut wäre wie bei uns!“ Und dann, leise: „Ich bin sicher, es wird so kommen.“ In diesem Moment testete ich mein Bauchgefühl. Und sagte ihm das. Der Test war positiv: Es wird so kommen.
Am nächsten Mittag flog ich zurück nach Berlin. Der Flug ist viel kürzer als man denkt. Am Himmel über Moskau waren wieder ein paar wenige Streifen.

Foto: © Christoph Hörstel